Dein eigenes System

Wir haben eine breite Auswahl an Varianten und System vorgestellt. Jetzt hast du die Gelegenheit, das Spiel für dich zu gestalten. Das sollte eigentlich ein einfacher Prozess sein, aber das ist natürlich nicht die ganze Geschichte – am Anfang sieht das ziemlich kompliziert aus, aber es wird mit jedem Mal einfacher. Irgendwann ist der Prozess dir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass du kaum noch verstehen kannst, warum das jemals ein Problem war. Wo auch immer du dich auf dieser Lernkurve befindest, wir können dir hier hoffentlich weiterhelfen.

Gleichgewicht

Zunächst solltest du deine Vorstellung von Spielgleichgewicht ablegen. Das ist ein wichtiges Konzept, aber nicht so, wie es normalerweise verwendet wird. Gleichgewicht ist nichts Abstraktes – es ist ein spezifisches Spielelement und sollte immer durch die Linse des Spiels betrachtet werden. Für sich selbst genommen ist nichts eine Störung des Gleichgewichts. Dafür sorgt nur der Kontext. Wenn ein Charakter Kräfte hat, die ihn zu einem allmächtigen Gott machen, scheint das unausgewogen zu sein, aber wenn alle Charaktere solche Kräfte haben, ist das die Grundlage für ein echt cooles Spiel. Es hängt alles vom Kontext ab.

Wie sorgst du also für Gleichgewicht, wenn du Kräfte entwirfst? Drei Sachen sind wichtig: Gleichgewicht innerhalb der Gruppe, innerhalb der Spielwelt und im Spielgeschehen.

Gleichgewicht in der Gruppe

Wenn du ein Kräftesystem entwickelst, musst du dir überlegen, welche der beiden Annahmen unten zutrifft:

  • Nur manche Charaktere verwenden Kräfte.
  • Alle Charaktere verwenden Kräfte.

Wenn du eine Kraft entwirfst, die nur einige Charaktere verwenden, dann musst du darüber nachdenken, wie die Kraft im Vergleich zu anderen Dingen abschneidet, die die Charaktere tun können. Was muss ein Charakter aufgeben, um diese Kraft zu erhalten? Letztlich brauchst du eine überzeugende Antwort auf die Frage „Warum sollte ich diese Kraft nicht nehmen?“

Die Sturmherren sind mit diesem Gedanken im Hinterkopf entworfen worden. Du musst eine Fertigkeit und einen Aspekt opfern, um die Fähigkeit zu erwerben. Das ist ein guter Grund, darauf zu verzichten. Da du Sturmherr vor allem im Kampf einsetzen kann, ist das ein vernünftiger Ausgleich. Aber selbst hier gehen wir davon aus, dass Waffen- und Rüstungswerte im Spiel sind. Ohne diese Annahme ist Sturmherr nur eine überlegene Kampffertigkeit und es gibt keinen Grund, sie nicht zu nehmen.

Du hast sicher bemerkt, dass du das Gleichgewicht hier durch den Bezug zu einem anderen Teil des Spiels herstellst. Das zeigt eine wichtige Eigenschaft des Gleichgewichts innerhalb der Gruppe – du willst sicherstellen, dass jeder Spieler aktiv und beteiligt bleibt. Wenn du einen Teil des Spiels viel cooler machst als alles andere, dann musst du davon ausgehen, dass die Spieler sich davon angezogen fühlen. Das solltest du entweder unterstützen oder andere Möglichkeiten finden, mit denen ihre Charaktere genauso cool sein können.

Wenn du den anderen Weg einschlägst und davon ausgehst, dass all deine Spieler eine Kraft wählen, dann kannst du so ziemlich alles machen. Du hast das Risiko verringert, dass einer der Spieler die anderen in den Schatten stellt. Sechs Wesire ist für diese Variante entwickelt worden und zeigt die Stärken und Gefahren dieser Herangehensweise. Die Kräfte, die in diesem System verliehen werden, sind unglaublichmächtig. Wenn nur ein Charakter solche Kräfte hätte, würde er alle anderen in den Schatten stellen, aber da alle gleichermaßen mächtig sind, besteht diese Gefahr nicht. Weil die Kräfte allerdings so stark und vielseitig sind, musst du darauf achten, dass keine von ihnen das Spiel dominiert.

Keine der beiden Methoden ist besser als die andere. Die Logik deines Systems wird normalerweise zeigen, ob nur manche oder alle Charaktere darauf zugreifen sollten. Aber der Unterschied muss dir klar sein, wenn du dein System entwirfst. Wenn das System beides versucht, schreit es geradezu danach, ausgenutzt und missbraucht zu werden; außerdem wird es dir keine verlässlichen Ergebnisse liefern.

Gleichgewicht in der Spielwelt

Es kommt dir vielleicht seltsam vor, dass du dir über Gleichgewicht in der Spielwelt Gedanken machen sollst. Aber das ist ein wichtiger Schritt, denn wenn du eine Kraft entwirfst, entwirfst du gleichzeitig einen Teil deiner Spielwelt. Die Regeln für Kräfte haben großen Einfluss darauf, wie die Welt funktioniert, und das solltest du nicht vernachlässigen, wenn du dir Kräfte ausdenkst. Unter anderem solltest du dir folgende Fragen stellen:

  • Wer kann die Kräfte verwenden?
  • Wie viele Anwender gibt es?
  • Wie fähig und mächtig sind sie?
  • Wie beeinflussen die Kräfte die gesellschaftliche Rolle der Anwender?
  • Was können die Kräfte in der Spielwelt normalerweise bewirken?
  • Was können die Kräfte in der Spielwelt maximal bewirken?

Wenn du nur stark eingeschränkte Kräfte verwendest, musst du dir darüber nicht so viele Gedanken machen. Aber solche Kräfte fühlen sich häufig angeflanscht an, so als wären sie gar kein richtiger Teil der Spielwelt. Je mehr du darüber nachdenkst, welche logischen Folgen die Existenz einer bestimmten Kraft in einer Welt haben könnte, desto besser kannst du dein System in jeder Hinsicht ausbalancieren.

Die Herren der Leere sind ein großartiges Beispiel für ein Magiesystem, das sich im Gleichgewicht mit der Welt befindet. Es gibt bei den Herren der Leere nur sehr wenig Kontrollmechanismen, die die Magienutzung eingrenzen. Das System besteht fast nur aus Spielweltelementen, sowohl in Bezug auf das Verhalten der Anwender als auch auf den Einfluss ihrer Kräfte. Jeder kann diese Kräfte verwenden, deshalb bauen die Anwender Hürden auf, die andere daran hindern sollen, sie zu benutzen. Dadurch bleibt es im Dunkeln, wie viele Anwender es eigentlich gibt und was sie genau können. Die Auswirkungen der Kräfte sind allesamt ziemlich schrecklich, werden aber bislang von Glück oder guten Absichten im Zaum gehalten. Wenn du das veränderst, veränderst du auch die Kraft.

Profi-Tipp: Willst du deine Spielidee ein bisschen aufpeppen? Schau dir die Fragen zum Gleichgewicht in der Spielwelt an und ändere eine Antwort. Schau, was passiert. Beispielsweise haben die Kräfte in den Herren der Leere keine wirklich großen Auswirkungen auf die Umwelt, aber was passiert, wenn du das veränderst? Was ist, wenn irgendein Ding Frankfurt auffrisst? Ein Ding, das so groß und grässlich ist, dass man es nicht einfach vertuschen oder verstecken kann? Was verändert sich damit?

Gleichgewicht im Spiel

Dieses Konzept ist eine Erweiterung des Gleichgewichts innerhalb der Gruppe. Hier geht es jedoch darum, wie wichtig und entscheidend die Kräfte im Spiel sind und wie sehr sie es antreiben. Es gibt einige Spiele, bei denen die Kräfte zentral im Mittelpunkt des Spiels stehen und sich alles um sie dreht, wie bei einem Superheldenspiel oder bei einem Spiel um Magier in der Tradition von Ars Magica. In anderen Spielen, z. B. klassischen Abenteuer- oder Horrorspielen, werden die Kräfte einfach in das größere Umfeld des Spiels integriert. Finde heraus, was für dein System gilt und passe deine Kräfte entsprechend an.

Etwas weniger abstrakt: Achte darauf, wie dein System den Spielfluss am Tisch beeinflusst und steuert. Wenn die Regeln einen guten Teil eurer Aufmerksamkeit erfordern (vielleicht müsst ihr mehr würfeln oder ähnliches), dann kann es passieren, dass die Spieler ohne Kräfte deswegen plötzlich viel weniger beachtet werden, weil sich alle auf die Kräfte konzentrieren. Eine aufmerksame SL kann das ausgleichen, aber es wäre besser, wenn das Problem von vorneherein gar nicht auftreten würde.